alle Texte von:
W. A. Siebel
Umgang”, 5. Aufl., 2007

Links zu “höllischen” Themen:

Angst Eifersucht Furcht

Sorgephänomene

6. Kapitel: Sorgephänomene

In der Regel rufen jene Impulse, die bei Erwachsenen auf das Ursprüngliche zielen, unbewußte Assoziationen zu Erfahrungen ihrer perinatalen Zeit hervor. Sie wecken irritierende dynamische Aktivitäten, die als Sorge zu identifizieren sind. Die Sorge (z.B. um das eigene Überleben) ist mit der Todesidee verknüpft, da dem Säugling eine Selbstversorgung noch nicht möglich ist. Da die aktivierten Frontalhirnzellen das Alter ihrer Füllung repräsentieren, erlebt der Mensch sich unbewußt so, als sei er noch ein Säugling, als müsse er noch immer versorgt werden. Die daraus resultierende Haltung ist ein Effekt und effiziert nun ihrerseits die Tendenz, eine mögliche Einpassungsform zu finden, damit die Versorgung wieder gewährleistet ist, oder anders ausgedrückt: damit die aktivierten Zellimpulse den Alarm ausschalten.

Je nachdem, wie stark das Selbstverständnis eines Menschen in der frühen Kindheit reduziert worden ist auf das Familien-Verständnis, auf das, was in der Familie verstehbar und gültig war, speichert das Unterbewußte des Geistes (wir verwenden dafür den Begriff des gehirnanatomischen Ortes: “Frontalhirn”) in seiner Selbsteinschätzung Reduzierungen der Selbstwahrnehmung. Das Frontalhirn speichert also diese wesentlichen Anteile einer Negierung des Selbst des Kindes. Als Kind hat jeder Mensch eine Vor-stellung erlangt, die er damals als das Ganze, nämlich einschließlich seiner Selbst-Vorstellung selbst-verständlich übernommen hat. Dies führt später häufig zur Verwechslung von Inhalt und Form, indem man die Form einer Sorge als Zeichen für einen angemessenen Inhalt nimmt, ohne dies zu überprüfen. Erstrebenswert ist demzufolge eine bessere Wahrnehmung von Welt, was nach Maslow zu einer bequemeren Beziehung zu ihr führt. Er meint damit “eine realitätsangemessene Wahrnehmung, die nicht von den eigenen Wünschen, sondern von wirklichen Gegebenheiten der Umwelt bestimmt wird”, um nicht eigene Erwartungen, eigenen Glauben u.ä. mit der Welt zu verwechseln (1).

Durch die Gebote und Verbote und vor allem durch die Erfahrung der Konsequenzen bei Übertretungen lernt ein Kind, sich nur dann auf eine Sache einzulassen, wenn dies von den Eltern nicht negiert und/oder ausdrücklich bejaht wird. Andernfalls droht doch stets die Gefahr, wieder einmal für etwas bestraft zu werden, von dem das Kind vorher gar nicht wußte, daß es verboten ist. Viele Lernerfolge erzielen Eltern dadurch, daß sie erst im Nachhinein sagen, was das Kind hätte vorher wissen müssen, nämlich das, was verboten ist. Hierdurch entsteht der Effekt, vor Neuem erst einmal zu zögern, zu grübeln, ob dies Neue die Zustimmung mindestens eines Elternteils finden werde.

Sorge entsteht also genau dort, wo entweder Spaß an etwas vorhanden ist, was aber verboten sein könnte, und/oder wo die Sache hinter der Sache unklar ist, nämlich ein gewähnter Verhaltens- oder Strafzusammenhang als Sache hinter der Sache. Dadurch zeigt sich die Fähigkeit des Menschen, nicht in die Zukunft sehen zu können (umgangssprachlich: “zu brauchen”), als Defizit. In dieses Defizit wird die religiöse Dimension hineingedacht: die Schuldfrage erzwingt die Notwendigkeit, sich den Kopf der Erzieher “zerbrechen” zu müssen, wobei die Fähigkeit des Menschen, die Gedanken anderer nicht lesen zu sollen, als weiteres Defizit erlebt wird, obwohl man selbst froh darüber ist, daß die eigenen Gedanken nicht gelesen werden können - man also ein Wissen darum hat, daß das Gedankenlesen nicht möglich ist.

Sorge läßt den Menschen außer Atem geraten, blockiert das Denken, bis er nicht weiter weiß. Diese Umstände werden dann wieder negativ als unzulässige Begrenzung gedeutet, deren Ursachen irrtümlich draußen, außerhalb des sich sorgenden Menschen, gesucht werden. Die Suche nach der Ursache wird in die Schuldfrage verwandelt, Sinnerfahrungen ausgeschlossen, das eigene Nicht-richtig-sein vorausgesetzt und Entlastung gesucht. Die Leugnung der Eigenbeteiligung führt zur Verdrängung des Wissens darum. In die entstandene Lücke wird das fatalistische Etikett “schon wieder” hineingedacht: Die Lücke wird nicht mehr als Lücke erlebt. Dies kann man jedoch wissen! Wer beim “schon wieder” dieses Wissen dazubringt, kann der Verwechslung von Person und Handlung entgehen und wird um mindestens eine Erkenntnis reicher werden bei der Beantwortung der Frage “wie diesmal?”. Wer dieses Wissen wegläßt, bleibt bei der Idee des Nicht-Richtig-Seins.

In der Sorge ist nicht nur dies Erratenwollen zu erkennen. Es läßt sich ihr auch die Idee abspüren, daß bei einem Versagen die eigene Richtigkeit in Frage gestellt werden könnte, wie wir es schon erfahren hatten. Die Idee des Nichtrichtigseins gehört zu dem Sachverhalt eines Erziehungsprinzips, das als Theorem, Kinder seien noch keine Menschen, Theorie und Praxis von Erziehung bestimmen kann. Das führt zu der Idee, daß Kinder erst noch zu Menschen erzogen werden müßten. Diese Grundhaltung schlägt sich in Erziehungsstilen nieder und widerfährt dem Kind als stete, unausgesprochene Be-(Ver-!)Urteilung. Hier liegt also der Anknüpfungspunkt, um Gegenwart mit Vergangenheit so zu verbinden, daß eine neue Erfahrung durch Sorge (um das eigene Richtigsein) behindert wird, da sie sogleich auch die zuerst beschriebene Sorge um das eigene Überleben assoziiert.

Begegnungen mit Neuem wecken gerade auch als sinnvolle Verwundungsfolge (abgekürzt: VA-Folge) Wachsamkeit. Sie ist eine lebensnotwendige innere Möglichkeit. Sie erlaubt uns, uns zu konzentrieren und denken zu können, ggf. uns in Gefahrensituationen schnellstens durch Flucht in Sicherheit bringen zu können. Wachsamkeit gefährdet niemanden. Deshalb ist Schlaflosigkeit keine Wachsamkeit am falschen Platz; sie ist entweder Sorge vor Kontrollverlust (wer weiß, was im Schlaf alles geschehen kann) oder Blockade der Regeneration durch Sorge.

Die überdrehte Form der Wachsamkeit, die Neugier, will nachweisen, daß es letztlich doch nichts Neues gibt. Die Bindung an die Fiktion des Altbekannten gibt sich zwar leidend “ach, schon wieder”, ist jedoch getarnte Freude über das Verbleibenkönnen im Bisjetzigen, was nach frühkindlicher Erfahrung nicht bestraft werden kann. Neugier und Fatalismus sind zwei Formen der Möglichkeit, Begeisterung über das Verbleiben im Bisjetzigen zu tarnen. Diese Vorstellung ist eine geschlossene; wer nicht applaudiert, wird als Feind gedeutet und ausgeschlossen, als habe er sich durch seine Nichtzustimmung als solcher erwiesen. Wahrheit und ihre Wahrnehmung können wieder aus dem Bewußtsein verbannt (verdrängt) werden.

Verwundungs-(=VA-)Erfahrungen, die von außen in den Menschen gelangt sind, können als eigene Schuld gedeutet werden, VA-Folgen erscheinen dann als Folgen persönlichen Versagens. Ein Versagen bedarf der Strafe, die sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die für den Organismus harmloseste Methode ist das sogenannte “schlechte Gewissen”. Sie ist auch die schnellste Möglichkeit. Sie kann nach ausreichender Erleidung abgebrochen werden durch geistigen Entschluß. Damit kann sich auch die Berechtigung erarbeitet werden, den gleichen Fehler noch einmal tun zu dürfen, da das Strafmaß ja bekannt ist. Mit Einsicht hat ein “schlechtes Gewissen” nichts zu tun, eher mit einer Ansicht. Für den Organismus sind jene Strafen gefährlicher, die sich in Körpersymptomen, gar in chronischen Erkrankungen zeigen.

Bei einer sehr frühen VA durch einen Mann (in der Regel der Vater) wird die eigene VA sogar als persönlicher Makel gedeutet. Diese Deutungen werden dann zum Anlaß dafür, sich möglichst mit Handlungen oder Gesprächsbeiträgen zurückzuhalten, sich also anderen gegenüber zu verrätseln, um Anfragen und/oder Angebote hervorzulocken, auf die dann brav geantwortet werden kann. Hierhin gehört das vom Skinnerschen Ansatz her bei Stapf und Koautoren bereits 1972 so bezeichnete “Bravheitssyndrom” (2) bzw. die Syndrome Nr. 8.7.5.1. (“Ahnenkult-Syndrom”) und/oder Nr. 8.7.5.5. (“Nützlichkeits-Syndrom”) in Noosomatik Bd. V.

Eine klare Beschreibung des eigenen Tuns wird dadurch verhindert. Per effectum fasziniert das Verschweigen der eigenen Gedanken in dem Maße, wie die Suche nach der privaten Schuld die befürchtete Vollstreckung meint hinausschieben zu können. Subjektiv ist das Urteil über sich selbst längst unterbewußt gefällt. Es soll nur die Vollstreckung, der befürchtete Entzug der Versorgung, verzögert werden. Diese Verzögerungstaktiken können zusätzlich mit dem “Schne-Brü-Syndrom” (3) einhergehen, dem “schnellen Brüten”, das mit Hilfe des eigenen Organismus eine Atmosphäre verbreitet, die die Lust zur Teilhabe am “leben” gänzlich unterdrückt. Der Volksmund spricht dann von “dicker Luft”. Die Dynamik von Gefühlen wird in die Aktivität des Zweifelns eingebracht. Dabei kann an allem gezweifelt werden, nur nicht am Zweifel selbst, was diese Tätigkeit geistig bereits als zweifelhaft erscheinen lassen könnte, wenn sie nicht eben auch unbewußt gewollt wäre.

Diese mythologisch beschreibbare Faszination des Dämonischen (Umberto Eco) bedeutet nicht nur Raum für den “Drachen” (ein mythisches Bild für die VA-Folgen), mit dem wir in der VA zu kämpfen gemeint hatten, sondern auch die Möglichkeit, das unterbewußte System geschlossen zu halten, um den liebevollen, lockenden Angeboten von “leben” im Sinne erlernter und im Frontalhirn gespeicherter Muster widerstehen zu können.

 aus: W. A. Siebel “Umgang”, 5. Aufl. 2007, S. 137 ff.